Das Buch A Taxonomy of Office Chairs war eine wunderbare Überraschung für uns, als es 2011 erstmals veröffentlicht wurde. Wir waren begeistert, dass die Geschichte der Bürostühle aus dem Blickwinkel ihrer Komponenten erzählt wurde. Die Klassifizierung von Rückenlehnen, Armlehnen, Sitzen oder Gestellen und die systematische Verfolgung ihrer Entwicklung in schematischen Zeichnungen gaben den Komponenten selbst eine neue Bedeutung. Es gibt kein anderes Buch, in dem Bauteile von Möbeln mit solcher Tiefe und solchem Respekt behandelt werden.
Jetzt, etwa zehn Jahre nach der Veröffentlichung von A Taxonomy of Office Chairs, haben wir die Gelegenheit, es durch eine kleine Publikation desselben Autors, Jonathan Olivares, zu ergänzen. In A Taxonomy of Office Chairs: Outtakes, Scraps and Updates zeigt uns Olivares den Entstehungsprozess des ursprünglichen Buches, persönliche Anekdoten, die nicht in die taxonomische Struktur des Buches passten, und aktuelle Entwicklungen im Bereich der Bürostühle während des letzten Jahrzehnts.
Der Designer Jonathan Olivares und Eckart Maise sprechen über einen wissenschaftlichen Ansatz zur Dokumentation von Bürostühlen, die Bedeutung ihrer Komponenten und über die Qualitäten des Drei-Minuten-Stuhls.
2006 war ich noch in meinem ersten Atelier in der Garage meiner Mutter und verbrachte viele Stunden damit, mir alle möglichen Fragen zu stellen. Ich fragte mich nach dem Ursprung der Dinge, die wir im Design für selbstverständlich halten. Zum Beispiel eine höhenverstellbare Armlehne – ich wollte wissen, woher sie wirklich kommt. Mir schien, dass der Bürostuhl in den USA zu dieser Zeit das allgegenwärtigste, komplexeste und vielleicht am wenigsten verstandene Designobjekt war. Daher schien mir die Typologie ein perfektes Thema für eine tiefergehende Untersuchung zu sein.
Der erste Anstoß für das Buch war die Erkenntnis, dass Bürostühle aus Komponenten bestehen und dass eine Komponente eines Stuhls mit einer ähnlichen Komponente eines anderen, völlig anderen Stuhls in Verbindung stehen kann. Das Buch ist also eigentlich eine Studie über Stuhlkomponenten.
Taxonomien bieten einen differenzierenden und potenziell auch objektiven Blick auf den Bereich des Designs. Morphologische Taxonomien, die die Formen von Pflanzen und Tieren untersuchen, wurden durch die DNA in gewisser Weise obsolet, aber der Ansatz ist sehr nützlich für die Untersuchung von Designobjekten. Ich war auch daran interessiert, ein völlig neues Format für die Designgeschichte zu finden, da diese normalerweise eher auf stilistischen Analysen oder Designtheorie basiert. Als ich meine eigene Bibliothek mit Büchern über Design aufbaute, merkte ich, dass diese Bücher für andere Wissenschaftler geschrieben wurden, aber nur selten die Art von Informationen enthielten, die für Designer wirklich wichtig sind. Kürzlich war ein Freund, der als Koch arbeitet, bei mir zu Besuch, nahm ein Exemplar des Buches in die Hand und fragte, ob es ein Handbuch für Industriedesigner sei – das war ein perfektes Kompliment.
Das Buch erlangte in der Designbranche recht schnell eine Art Kultstatus. Kurz nach Erscheinen rezensierte Alice Rawsthorn das Buch für die New York Times / International Herald Tribune, ohne mir auch nur eine einzige Frage dazu zu stellen, und doch erfasste sie die Intention des Buches vollkommen. Das Buch ist inzwischen vergriffen. Seit seinem Erscheinen haben eine Reihe prominenter Designausstellungen und -publikationen taxonomische Strukturen als Organisationssystem verwendet, was sehr erfreulich ist.
ürostühle sind ein Spiegel der Gesellschaft und ihrer Veränderungen. Die ersten Bürostühle orientierten sich an Frederick Winslow Taylors Ideen zur Arbeitswissenschaft. In den Nachkriegsjahren entstanden dann zahlreiche Stühle, die Technologien aus der Kriegszeit aufgriffen. In den siebziger Jahren, als die Büroarbeit immer mehr zunahm und das Bewusstsein der Verbraucher wuchs, hatte die Ergonomie großen Einfluss auf die Bürostühle. Viele bezeichnen den Aeron Chair von 1994 als den Thron der Dotcom Zeit. Heute schliesslich sind der Einfluss von Nachhaltigkeit und neuer Arbeitsformen in den aktuellen Bürostuhlmodellen zu erkennen.
Eine besondere Herausforderung war es, den Ursprung eines bestimmten Designtypus zu identifizieren. Dazu musste man eine Funktion, wie z.B. das Fusskreuz, auswählen und dann alle Stühle untersuchen, die zu dieser Zeit und davor auf den Markt kamen, um zu sehen, welcher der erste gewesen sein könnte. Und die Möbel- und Komponentenhersteller haben, wenn überhaupt, nur spärliche Archive, so dass es sehr schwierig war, die Originalkataloge aufzuspüren. Das Gespräch mit Branchenveteranen, bei dem man sich jedoch allein auf Erinnerungen verlassen musste, war unerlässlich.
Ich hatte ein Kapitel erwogen, in dem Materialien und Verfahren erklärt werden, damit der Leser versteht, was Aluminiumdruckguss oder Kunststoffspritzguss genau ist. Leider stießen wir an die Grenzen des geplanten Umfangs und beschlossen, das Buch auf Stuhlkomponenten zu konzentrieren.
Über das Innenleben von Bürostuhlmechaniken beispielsweise hätte man ein eigenes Buch schreiben können. Mit wenigen Ausnahmen hatten die von mir befragten Designer nur ein rudimentäres Verständnis davon, was im Inneren einer Stuhlmechanik vor sich ging Das Wissen darüber lag vielmehr bei den Ingenieuren der Hersteller und derer Lieferanten. Als mir klar wurde, dass ich die Zulieferindustrie hätte befragen sollen, rückte mein Abgabetermin immer näher und mein Budget war aufgebraucht. Ein Gespräch mit einem Unternehmen wie Donati wäre damals sehr hilfreich gewesen.
Bei der Arbeit an den etwa 400 Illustrationen des Buches habe ich eine sehr wertvolle Lektion über Einfachheit und Komplexität gelernt. Ich stellte fest, dass die Stühle, die in einer Minute oder weniger gezeichnet werden konnten, oft zu einfach waren, um wirklich interessant zu sein. Die Stühle, für deren Illustration ich mehr als drei Minuten brauchte, waren hingegen zu kompliziert.
Der Drei-Minuten-Stuhl – wie zum Beispiel der Kevi von Jørgen Rasmussen, der Time Life Chair der Eames, der Morrison Hannah Chair für Knoll und der Sapper Chair von Richard Sapper – hatten eine gute Balance zwischen Einfachheit und Komplexität, Das waren Stühle, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen und gleichzeitig gut lesbar waren.
Es hat fast eine Stunde gedauert, den Embody Chair von Herman Miller zu illustrieren. Das machte nun wirklich keinen Spaß!
Die Begegnung mit Don Chadwick im Jahr 2008 hatte vielleicht den größten Einfluss auf mein Leben. Die Art und Weise, wie er über Los Angeles sprach – eine Stadt der Zukunft mit Ressourcen in der Luft- und Raumfahrt, mit Hollywoodproduktionen – überzeugte mich davon, nach L.A. zu ziehen und dort mein Designstudio zu eröffnen.
Der zehnte Geburtstag des Buches war ein Anlass, über eine Neuauflage nachzudenken. Darin wären die wichtigen Stühle enthalten, die in den letzten zehn Jahren auf den Markt gekommen sind, und die anderen Kapitel hätte ich aktualisiert. Nach reiflicher Überlegung beschloss ich, dass es angemessener wäre, eine begleitende Publikation herauszugeben, eine Art Fanzine zum ursprünglichen Buch, und so entstand A Taxonomy of Office Chairs: Outtakes, Scraps and Updates.
Das Buch Taxonomy baute auf einem internen Bericht für Knoll auf und ich tat mein Bestes, um meine Persönlichkeit aus dem Buch herauszuhalten und so objektiv wie möglich zu sein. Danach haben die Qualitäten des Buches – wissenschaftlich, obsessiv, ein bisschen «nerdig» – in den Augen Vieler mich und meine Designpraxis definiert. Allerdings assoziiere ich diese Qualitäten nun überhaupt nicht mit meiner Persönlichkeit oder Designsprache. Outtakes, Scraps and Updates soll also die menschliche Seite des Buches zeigen, und komplettiert es auf gewisse Weise. Es ist ein subjektives Sammelalbum, das auch eher meiner heutigen Sicht der Dinge entspricht.
Seit 2011 hat sich enorm viel verändert. Neue Technologien haben die Büroarbeit viel mobiler gemacht, Co-Working hat sich durchgesetzt, die Pandemie hat unsere Vorstellungen davon, wo und wie gearbeitet werden kann, für immer verändert, und Gaming hat ein Marktsegment mit neuen Parametern geschaffen.
Leider nein, aber wenn ich einmal meinen ersten Bürostuhl entwerfe dann muss er so sein, dass man ihn später in genau drei Minuten zeichnen könnte.
Jonathan Olivares ist ein Industriedesigner mit Studio in Los Angeles. Zu seinen Projekten gehören ein Showroom für Kvadrat in New York (2022), die Publikation Seeing (Nieves, 2022), ein Laden für Camper (Rockefeller Center, 2019), die Installationen Brujas Training Facility (Performance Space New York, 2018) und Room for a Daybed (Kortrijk Biennale Interieur, 2016). Olivares’ Arbeiten wurden international publiziert, mit Designpreisen prämiert – unter anderem mit dem italienischen Compasso d’Oro – und sind in den Designsammlungen des Art Institute of Chicago, des Los Angeles County Art Museum und des Vitra Design Museum vertreten.
Eckart Maise ist ein Consultant und Kurator mit Sitz in Basel und arbeitet mit der Möbelindustrie, Kulturinstitutionen und Designstudios an der Schnittstelle von Design, Markenbildung und Unternehmensstrategie. Davor war er im Vitra Design Museum tätig und verantwortete viele Jahre lang Produktkollektionen und Marke für Vitra.
A Taxonomy of Office Chairs: Outtakes, Scraps and Updates wurde von Jonathan Olivares herausgegeben und durch die Unterstützung von Donati ermöglicht. Für ein persönliches Gratisexemplar schreiben Sie bitte an: info@donati.eu